Wieso hat die Stadt Zürich mehr Parkplätze als Bäume?

Es ist Zeit, den öffentlichen Raum neu zu denken.

Dominic Hofstetter
5 min readApr 22, 2021
London möchte die erste National Park City der Welt werden. Wieso hat Zürich eigentlich keine ähnlich ambitionierte Vision? (Animation von WATG)

Auf öffentlichem Grund in der Stadt Zürich stehen rund 62’000 Bäume, etwa ein Drittel davon an Strassen, der Rest in Grünanlagen. Gleichzeitig gibt es ungefähr 70’000 öffentlich zugängliche Parkplätze.

Diese Zahlen stehen symbolisch für eine veraltete Vorstellung von Raumnutzung. Wie die meisten Städte ist auch Zürich um die Bedürfnisse des Autoverkehrs geplant. Wollen wir das noch, in einer Zukunft von Klimawandel, autonomem Fahren und Home Office?

Seit Oktober 2014 wohne ich an der Eidmattstrasse. Eine klassische Zürcher Quartierstrasse — Wohnzone, einbahnig, langweilig. Entlang der rund 500 Meter ihrer West-Ost-Achse gibt es 83 Parkplätze, vier Kreisel, drei Hydranten, und sonst nichts.

Die Eidmattstrasse ist wie viele Strassen in Zürich eine Betonwüste, deren Hauptzweck darin besteht, motorisierten Fahrzeugen die Durchfahrt und den Stillstand zu ermöglichen. Da ein Schweizer Auto im Durchschnitt aber nur während gerade einmal 4% der Zeit bewegt wird, ist die Eidmattstrasse wie die meisten Zürcher Strassen während 23 Stunden des Tages vor allem eines: ungenutzter öffentlicher Raum.

Die Eidmattstrasse in Zürich im März 2021: Wohnzone, einbahnig, langweilig.

Und die Auslastung von Strassen wird in Zukunft noch weiter sinken. Mehr als die Hälfte der Zürcher Haushalte hat bereits kein Auto mehr, der Anteil des motorisierten Individualverkehrs an der gesamten Mobilitätsleistung (Modalsplit) geht seit dem Jahr 2000 stetig zurück, von damals 40% auf zuletzt 25% (Stand 2015). Die Stadt Zürich möchte diesen Trend fortschreiben: Sie hat sich zum Ziel gesetzt, den Anteil von Fuss-, Velo- und ÖV-Verkehr bis 2025 um weitere 10 Prozentpunkte zu erhöhen.

In Zukunft werden also noch weniger Personen ein Auto besitzen, und es werden noch weniger Autokilometer gefahren. Zudem werden Berufstätige künftig vermehrt von Zuhause aus arbeiten. Unsere Strassen werden also immer weniger für den Zweck benutzt, für den sie konzipiert sind.

Was machen wir also mit dieser schlecht ausgelasteten, anachronistischen Infrastruktur?

Die Nutzung des öffentlichen Raums aus Sicht von Fussgängern (Illustration von Claes Tingvall)

Diese Frage stellen sich Städte auf der ganzen Welt. Einige davon haben sich auf den Weg gemacht, Raumplanung strukturell zu überdenken:

Und was macht Zürich?

Die Stadt priorisiert den Ausbau von Velowegen und des öffentlichen Verkehrs. Beides ist natürlich wichtig, bringt aber lediglich inkrementelle Verschiebungen im Modalsplit und keinen Paradigmenwechsel in der Raumnutzung.

Von anderen Akteuren kommt ebenfalls nicht viel Visionäres: Die ZKB möchte eine Seilbahn über’s Seebecken bauen, die FDP eine Autobahnbrücke über die Limmat. Und wenn einmal jemand etwas wagt, wie zum Beispiel das Tiefbauamt der Stadt Zürich mit seiner Quartierstrassenaktion “Bring’s uf d’Strass!”, hagelt es Einsprachen.

Die Dafne Schippers Brücke in Utrecht (NL) führt über eine Schule. Sie ist ein Beispiel eines neuen Raumplanungsparadigmas: der Integration von Verkehrs- und Lebensräumen.

Mir geht es nicht darum, das Auto zu verteufeln; ich möchte den öffentlichen Raum in einer Art und Weise nutzen, die zu höheren Auslastungen führt und mehr Lebensqualität schafft. Wenn ich heute mit meinem einjährigen Sohn draussen etwas unternehmen will, muss ich in den nächstgelegenen Park gehen, weil der Platz vor unserem Mehrfamilienhaus ausschliesslich dem Verkehr gewidmet ist. Wieso kann er nicht als Verlängerung des Lebensraums der städtischen Bevölkerung dienen? Wieso kann er nicht als Spiel-, Begegnungs-, Natur- und Verkehrsraum zugleich genutzt werden? Wieso muss ich auf’s Land ziehen, um von mehr Natur umgeben zu sein?

Das Gegenbeispiel aus Amsterdam (Fotos von Jason Colbeck)

Die Vorteile von Quartieren mit hohem Anteil an Begegnungsräumen wären immens: höhere soziale Resilienz, bessere körperliche und geistige Gesundheit, stärkeres Sozialkapital in der Gesellschaft und grössere Lebensqualität für die Bevölkerung.

Zudem ist belegt, dass Bäume und andere Grünflächen (sogenannte “Nature-Based Solutions”) enormen ökologischen Nutzen stiften: sie kühlen die Stadt, filtrieren die Luft, säubern das Wasser und die Böden, binden den Kohlenstoff im CO2, dämpfen Strassenlärm und fördern die Biodiversität.

Auch wirtschaftlich würde sich das lohnen — Die Stadt Melbourne beziffert den Wert seiner 70’000 Bäume auf 450 Millionen Franken, und in New York generiert jeder Dollar, der ins Anpflanzen und in die Pflege von Bäumen investiert wird, $5.60 Dollar an wirtschaftlichem Nutzen. Grünfläche wird deshalb vermehrt als Infrastrukturanlage betrachtet — nur nicht in Zürich, wo ein Baum noch immer als Kostenpunkt gilt.

In den letzten Jahrzehnten haben sich Lebens- und Arbeitsweisen unserer Gesellschaft stark verändert, und mit ihnen auch das Mobilitätsverhalten. COVID-19 hat diese Trends zusätzlich verstärkt — wir werden künftig weniger pendeln und mehr Zeit zu Hause verbringen.

Die städtische Infrastruktur hat sich noch nicht an diese Veränderungen anpassen können. Sie bleibt gefangen in veralten Paradigmen, die sich vor allem ums Auto drehen. Wann werden wir beginnen, Raumplanung strukturell anders zu denken?

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Dominic Hofstetter
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Written by Dominic Hofstetter

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